BIOENERGETIK

Der Begründer der Bioenergetischen Analyse oder kurz Bioenergetik, Alexander Lowen, hat schon vor über 60 Jahren begonnen, die grundlegenden Erkenntnisse des Körpertherapie-Pioniers Wilhelm Reich zu vertiefen, zu erweitern und vor allem in der praktischen Anwendung zu verbessern.

„Bioenergetik ist ein Weg, die Persönlichkeit vom Körper und seinen energetischen Prozessen her zu verstehen. Diese Prozesse, das heißt die Energieproduktion durch Atmung und Stoffwechsel und die Entladung der Energie in Bewegung sind die grundlegenden Vorgänge des Lebens." (A. u. L. Lowen, Bioenergetik für jeden, S. 2)

„In der Therapiesituation steht uns ein Mensch gegenüber, dessen energetisches Funktionskonzept offensichtlich gestört ist. Den vorgetragenen Ängsten, Depressionen oder sonstigen Problemen gehen, betrachten wir den Körper der leidenden Person, charakteristische Haltungsmuster, chronische Muskelverspannungen und eine meist reduzierte Atmung parallel. Der Körper des Klienten drückt das aus, was er ist. Er stellt sein Verhältnis zur Welt dar. (...) Diese Verkörperung ist ein kontinuierlicher, von der Zeugung bis zum Tode währender Prozess, der sich, entsprechend dem jeweiligen genetischen Potential, in Interaktion mit unserer Umwelt vollzieht und zur Ausbildung spezifischer Charakterstrukturen führt.

Wird ein Kind geboren, so bewegt es sich, einem inneren Wissen folgend, auf die Welt - und die Welt des Kindes ist die Mutter - zu und sucht, was es für seine Entwicklung braucht: Nahrung, Wärme, Schutz, Stimulation und Aufmerksamkeit. Je mehr seine diesbezüglichen Erwartungen Antwort finden, desto kräftigere Wurzeln schlägt es (...)Werden seine Erwartungen hingegen nicht erfüllt, so reagiert es anfangs mit Entsetzen, später mit Frustration. Es lernt, sich der Welt fernzuhalten und starke Emotionen wie Wut, Angst, Trauer oder Lust zu unterdrücken.

Diese Verdrängungsarbeit ist mit chronischen Verspannungen der Muskulatur verbunden. (...) Diese Spuren und Erfahrungen der Kindheit prägen sich zutiefst in Körper und Seele ein, sodass wir von der Ausbildung von Charakterstrukturen sprechen. Das Wort Charakter bedeutet im ursprünglichen Wortsinn „das Eingeprägte". (...)

Eingefleischte Bewegungs- und Haltungsmuster sowie die Unterdrückung von Gefühlen und Ausdruck, die im Körper zu strukturellen Veränderungen, zu Symptom und Krankheit geführt haben, können mithilfe des Therapeuten verändert werden. Das Ziel ist es, beim Klienten einen Wachstumsprozess auszulösen und zu fördern, sodass dieser später auch ohne Hilfe des Therapeuten weitergeht. Eine Veränderung von Grund auf bezieht dabei immer den Körper mit ein.

Drei Schwerpunkte gibt es dabei in der Körpertherapie:

  1. Die körperliche Übung zur Befreiung der Atmung, zur Lösung aus charakteristischer Erstarrung und zur Einübung neuen Ausdrucks,
  2. die Analyse der dabei freigesetzten Emotionen und ihre Zuordnung zu bestimmten Kindheitserlebnissen, und
  3. die Integration der neuen Erfahrungen in das Alltagsleben.

Wenn man Gesundheit nicht allein als Freisein von Krankheit begreift, sondern als ganzheitlichen, alle Lebensbereiche umfassenden Zustand von Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Glück, so wird einsichtig, dass dieser Zustand nicht ein einmal zu erreichendes Ziel sein kann, sondern die fortwährende Arbeit an uns selber braucht, Gespür und freundliche Aufmerksamkeit für uns selber, unsere Mitmenschen und unsere Umwelt." (Mittendorfer, 1987, S. 16ff, nach W. Büntig)

In der von Dr. Lowen entwickelten, ursprünglichen Form der Bioenergetik arbeitet man vorrangig mit  „Körperlesen" und sehr kraftvollen Übungen. Beim Lesen des Körpers geht es, ähnlich dem Betrachten der Jahresringe eines Baumes, um die vielschichtige Analyse des körperlich-seelischen Gewordenseins als Reaktion auf die vorgefundenen Entwicklungsbedingungen in der Kindheit (Haltung, Muskulatur, Energie, Atmung, Erdung, Auffälligkeiten, etc). Die bioenergetischen Übungen haben das Ziel, dass die mithilfe von körperlichen Verspannungen („Muskelpanzer") unterdrückten Gefühle (Angst, Wut, Trauer, Scham, Lust, Liebe, etc) wieder zum Ausdruck kommen können („Katharsis") und sich die körperlich-seelischen Blockaden so auflösen. Bioenergetik steht gleichsam als Synonym für Körpertherapie. Viele andere Therapieformen haben im Lauf der Jahre daraus Anleihen genommen. 

Im Laufe der Jahre wurde die Bioenergetik weiterentwickelt von einer oft kathartischen zu einer mehr prozessorientierten Form. Es geht jetzt mehr um das Beleben als um das Ausleben. Sanftere Übungen ermöglichen mehr innere Achtsamkeit. Die Körperanalyse von außen wird ergänzt durch die Hinlenkung zu mehr Innenwahrnehmung. Körperlich-seelische Blockaden werden zu Gefühlen und Szenen der Kindheit in Beziehung gesetzt, sowie zu der Frage, wie wir uns als Erwachsene immer wieder in ähnliche, aus der Kindheit bekannte, leidvolle Situationen - und damit verbundene Blockaden - bringen. Und was aus diesem Kreislauf herausführen kann...

Dabei zeigt sich oft, dass nicht allein das erlittene Trauma, sondern auch unsere damals entwickelte Verteidigungsstrategie dagegen uns heute wieder in das altbekannte, leidvolle Dilemma bringt. Was in der Kindheit - als Reaktion auf den Mangel oder das Trauma - eine sinnvolle „Überlebenstechnik" war (wir mussten ja mit dem zurechtkommen, was wir an Bedingungen vorfanden), behindert heute unser Leben, unser Wachstum und unsere Beziehungen.

In der bioenergetischen Therapie werden Veränderung und Entwicklung möglich durch Einsicht, Loslassen der muskulären und charakterlichen Verspannungen („Charakterpanzer") sowie der damit verbundenen Gefühle, durch Verwurzelung im eigenen Organismus und in der Realität („Erdungsprinzip"), und durch das Erarbeiten von befriedigenden Alternativen.

Bioenergetik (und Elemente daraus) findet als hilfreiches und effizientes Verfahren seit langem auch in nicht-psychotherapeutischen Bereichen wie Organisationsberatung, der Arbeit mit Führungskräften, im Stressmanagement, im Sport und der Gesundheitsvorsorge ihre Verwendung.

Die heutige Bioenergetische Analyse ist als sehr wirksames psychotherapeutische Methode auf fast allen Kontinenten verbreitet und vielfach, u.a. in der Schweiz, als Kassenverfahren anerkannt.